Grifftabelle für Iwan Müllers Klarinette
Bonn 1811
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Zwei Klarinetten aus der Sammlung des MIMUL, die Müllers Reformen berücksichtigen:
Jacques Printemps, Lille um 1840, MIMUL 3458 (oben)
H. C. Stümpel, Minden um 1850, MIMUL 4627 (unten)
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Iwan Müller: Eine chromatische Klarinette

Eine wirkliche Reform der Klarinette unternahm erst der Klarinettist Iwan Müller, der dem Pariser Conservatoire im Mai 1812 sein neues Klarinettenmodell mit 12 Klappen zur Begutachtung vorstellte. Sein chromatisches Klarinettenmodell wurde zunächst von der Kommission des Pariser Conservatoire abgelehnt. Das recht differenzierte Gutachten erschien im Mai 1812 im Le Moniteur Universelle und beschreibt treffend die Mängel der zeitgenössischen Klarinette. Für die Kommission des Conservatoire stellten allerdings die unterschiedlichen Klangfarben der verschieden großen Klarinetten eine wesentliche Charaktereigenschaft der Instrumente dar, die unbedingt zu erhalten sei, damit den Komponisten auch weiterhin die sehr unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten der Klarinettenfamilie zur Verfügung stünden.
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Die Kommission orientierte sich also deutlicher an den (Hör-)Erwartungen, welche Komponisten an ein neues Instrument richteten, als an den Bedürfnissen, welche ein Interpret in der Zeit um 1812 gehabt haben dürfte. Die Perspektive des Klarinettisten macht Joseph Fröhlich wenig später in einem Aufsatz in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung vom 15. Oktober 1817 deutlich. Fröhlich beschreibt zunächst die Eigenschaften der gewöhnlichen Klarinette und nennt als deren Nachteil zunächst die Schwierigkeit in der Ausführung „sehr vieler Stellen, besonders wenn die Vorzeichnung mehrere Erhöhungs- und Erniedrigungszeichen mit sich führte“ und die „Dumpfheit“ dieser Passagen. Als Nachteile der corps de rechange zählt er auf:

»1.) ist es doch gewiss unbequem, es mit so vielen Instrumenten zu tun zu haben […]
2.) macht der größere Bedarf ungleich höhere Auslagen
3.) erzeugt es bey dem Spieler einen sehr bedeutenden Unterschied, sowohl in Hinsicht der weiteren oder engeren Lage der Finger beym greifen als vorzüglich in Hinsicht des Ansatzes, wenn er von der C- auf die A-Klarinette wechselt, und so umgekehrt, überspringen muss, was häufig vorkömmt.
Der Hauptmangel bleibt aber immer jener, dass sich die Qualität des Tones [...] nicht gleich blieb, dass man also, so zu sagen, immer ein anderes Instrument zu hören bekam. Denn wer würde nicht den auffallenden Unterschied in der Tonqualität fühlen, welcher zwischen dem vollen c auf der B-Klarinette und dem dünnen b auf der C-Klarinette statt findet; welche Klänge sich doch in Hinsicht der Tonhöhe gleichkommen? –
So wenig also auf dieser Seite für die wahre Vervollkommnung dieses Instrumentes zu gewinnen war, so wenig leisteten im Grunde auf der anderen die vielen Klappen, welche man in neueren Zeiten angewandt hat. Zwar wurden durch sie viele dumpfe Töne verbessert, und klangreicher gemacht: aber sie erhielten doch nicht jene Gleichheit, welche zum unbeschränkten und gleichen Vortrag aller Töne gehört, und den Spieler befähigt, einen jeden Ton nach Belieben zu gestalten, denselben nach allen Graden anwachsen und sich verlieren zu lassen, er befinde sich nun in der unteren, mittleren oder oberen Oktave.
Alle diese Unvollkommenheiten hat Herr Müller beseitiget, und dieses Instrument mit einer Vollkommenheit hergestellt, dass wir ihn [...] mit Recht als zweiten Erfinder desselben ansehen können.«

Die Basis für alle Verbesserungen Müllers ist die Neukonzeption und Neugestaltung des Tonlochs für f0/c2. Anstatt der Verwendung eines Wulstes mit einem schräg gebohrten Griffloch für den kleinen Finger der rechten Hand, welches an der akustisch falschen Stelle saß und zudem noch zu klein war, tritt ein ausreichend großes Tonloch, welches mit einer Klappe verschlossen wird und dadurch optimal positioniert werden kann. Dies löst zudem Schwierigkeiten der Tonlöcher für gis0/dis2 sowie g0/d2. Außerdem wurde die Klarinette fortan in fünfteiliger Struktur gebaut: Unterstück und Herzstück werden bis heute in einem Stück angefertigt.
Besonders hervorzuheben ist, dass diese Neugestaltung des Unterstücks natürlich auch eine Neukonzeption des konischen Anteils in diesem Teil der Klarinette mit sich brachte. Dadurch war die Müller-Klarinette lauter und obertonreicher. Weitere hinzugefügte Klappen dienen dazu, Gabelgriffe zu vermeiden und alternative Griffe für denselben Ton anzubieten. Die Wahl des Fingersatzes kann unter Berücksichtigung von Ansprache, gewünschter Klangfarbe, Grifftechnik oder erforderlicher Tonhöhe getroffen werden.

Müllers neues Klarinettenmodell wurde in der zeitgenössischen Presse viel beachtet, ausführlich diskutiert und durchweg positiv bewertet. Iwan Müller kooperierte mit zahlreichen Instrumentenbauern, die Klarinetten nach seinen Vorschlägen anfertigten. Zu ihnen gehörte auch der Göttinger Holzblasinstrumentenbauer Johann Gottlieb Streitwolf, der sich nach 1814 mit dem neuen System beschäftigte. Außerdem warb Müller in fulminanten Auftritten mit virtuosen Kompositionen aus eigener Feder für sein neues Klarinettenmodell. Um 1817 widmete er Simon Hermstedt sein zweites Quartett für Streichtrio und Klarinette, was darauf schließen lässt, dass Hermstedt bereits zu jener Zeit auf das neue Modell wechselte.


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